Datenbank für die Ulmer Opfer der NS-„Euthanasie“
In dieser Datenbank sind die Namen und, soweit möglich, Kurzbiografien von Ulmer*innen aufgenommen, die im Nationalsozialismus ermordet wurden, weil sie eine körperliche oder geistige Behinderung hatten oder psychisch krank waren. Aktuell enthält sie die Daten von 186 Personen, die aus Ulm stammten oder aus Ulmer Einrichtungen in Tötungsanstalten wie Grafeneck verbracht wurden. Die Dunkelzahl liegt deutlich höher. Das Schicksal dieser Menschen ließ sich bisher nicht hinreichend klären. Grundlage der Datenbank ist die im Januar 2020 vom DZOK und Stadtarchiv Ulm herausgegebene Monografie “…aber ich hoffe, dass ich nicht verloren bin” Gedenkbuch für die Ulmer Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden.
Die Datenbank bietet Nutzer*innen die Möglichkeit, Angehörige oder andere Personen zu finden sowie Informationen an das DZOK zu schicken. Im Archiv des DZOK stehen zudem digitalisierte Dokumente zu einem Großteil der aufgenommenen Personen für vertiefende Forschungen zur Verfügung. Anfragen oder Hinweise können jederzeit an das DZOK gerichtet werden, per E-Mail oder durch die Kommentar-Funktion unter jedem Datensatz.
Grundsätze der Veröffentlichung
Die Frage der Veröffentlichung der Namen von Opfern der NS-„Euthanasie“ ist Gegenstand einer langjährigen, intensiv geführten, gesellschaftlichen Debatte. Aufgrund der fortwirkenden Stigmatisierung von Behinderungen und psychischen Erkrankungen in der Bundesrepublik, gab es lange Zeit Widerspruch gegen eine Veröffentlichung der Namen und Biografien. In jüngerer Zeit wurde aber vermehrt öffentliche Kritik an der daraus resultierenden restriktiven Veröffentlichungspraxis geübt. Eine Petition an den Deutschen Bundestag, die Veröffentlichung erster Gedenkbücher für die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Entscheidung des Bundesarchivs, Daten der Opfer zu veröffentlichen, haben u.a. zu einer Neubewertung beigetragen. Die Datenbank ist diesen neuen Grundsätzen eines offenen erinnerungskulturellen Ansatzes verpflichtet, in dem sie zentrale Daten der Opfer der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Gleichzeitig wurde bei der Auswertung der Quellen und der Darstellung der Biografien sorgfältig geprüft und abgewogen, welche Informationen veröffentlicht werden.
Darstellung der Biografien
In der Datenbank sind Namen, Geburtsdatum und -ort, familiäre Herkunft und Beruf in Form von Kurzbiografien veröffentlicht. Nach Möglichkeit werden auch persönliche Hinweise und Daten zu Anstaltsaufenthalten, Sterbedatum und -ort berücksichtigt. Ziel ist es, die Menschen als Individuen darzustellen. Auf die Nennung von Diagnosen und konkreten Krankheitsbildern wird bewusst verzichtet. Ebenso sind die Inhalte aus den Krankenakten sehr zurückhaltend wiedergegeben. Zum einen sind die seinerzeit gestellten Diagnosen vor dem Hintergrund des damaligen lückenhaften medizinischen Wissens zu sehen, zum anderen tritt in den Berichten über die Patient*innen häufig ein von eugenischen Zielsetzungen geprägtes, inhumanes und sozialrassistisches Weltbild zutage, das psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung in stigmatisierender Weise herabwürdigt.
Quellenlage und Recherchen
Die Biografien unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Quellengrundlage deutlich in Umfang und Aussagefähigkeit. Als Spätfolge der zielgerichteten Vernichtung des Lebens dieser Menschen, ließen sich teils trotz aufwändiger Quellenforschung nur wenige Hinweise zu Biografien finden. Bei anderen Opfern hingegen ist die Quellenlage besser, so dass sie als Individuen erscheinen, insbesondere, wenn Bildmaterial oder persönliche Dokumente zu ihnen gefunden werden konnten.
Insgesamt wurden für die Identifizierung der Opfer und die Erstellung der Kurzbiografien Recherchen in 21 größeren und kleineren Archiven wie etwa im Bundesarchiv, in den baden-württembergischen Landesarchiven, in kommunalen und Gedenkstättenarchiven sowie in den Archiven ehemaliger Anstalten vorgenommen. Ausgewertet wurden Unterlagen wie ärztliche Gutachten, Schul- und Arbeitszeugnisse und auch Äußerungen von Angehörigen und Betroffenen.
Die Ulmer Opfer
Die Datenbank umfasst alle 186 bekannten Opfer der NS-„Euthanasie“, die in Ulm geboren wurden, in einem seiner heutigen Stadtteile lebten, bevor sie in eine Heil- und Pflegeanstalt bzw. in ein Konzentrationslager eingewiesen wurden oder in der Landesfürsorgeanstalt Oberer Riedhof in Ulm-Grimmelfingen untergebracht waren. Die Opfer kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. Vor ihrer Ermordung waren sie in mindestens dreizehn Einrichtungen untergebracht, die meisten im Oberen Riedhof. Viele der Kinder, Frauen und Männer waren chronisch krank oder stark eingeschränkt und brauchten Unterstützung im Alltag, weshalb ihr Leben besonders gefährdet war. Gleiches galt auch für jüdische Patient*innen sowie strafrechtlich verurteilte Personen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1939 begann zunächst ihre systematische Erfassung, im Januar 1940 dann die Ermordung. Die „Euthanasie“-Morde dauerten bis zum Kriegsende an und wurden in verschiedenen Mordprogrammen organisiert: beginnend mit der zentral gesteuerten „Aktion T4“ an erwachsenen Patient*innen aus Heil- und Pflegeanstalten (1940/41), der dezentralen „Euthanasie“ ab 1941, der „Kindereuthanasie“ ab 1939 und der „Aktion 14f13“ ab 1941 zur Ermordung kranker KZ-Häftlinge.
„Aktion T4"
157 Ulmer*innen wurden Opfer der zentral gesteuerten „Aktion T4“. In diesem Geheimprogramm organisierten die beteiligten Ämter und Ärzt*innen, ausgehend von der Planungs- und Verwaltungsbehörde in der Berliner Tiergartenstraße 4, ab 1940 die Ermordung von Patient*innen aus Heil- und Pflegeanstalten in insgesamt sechs Tötungsanstalten. Die erste Tötungsanstalt wurde im Januar 1940 im unweit von Ulm auf der Schwäbischen Alb liegenden Grafeneck eröffnet. Allein hier wurden 149 Ulmer*innen ermordet. Reichsweit wurden im Rahmen dieses ersten großangelegten NS-Massenmords über 70.000 Menschen mit Gas getötet. Die „Aktion T4“ konnte trotz aller Bemühungen nicht verheimlicht werden. Zunehmende öffentliche Unruhe führte im Sommer 1941 zur Einstellung der „Aktion T4“. Dennoch wurden kranke und behinderte Menschen weiterhin getötet.
Dezentrale „Euthanasie“
Die Selektion derjenigen, die ermordet werden sollten, wurde nun nicht mehr zentral gesteuert, vielmehr töteten Ärzte und Pflegepersonal von nun an Patient*innen im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“ direkt vor Ort mit überdosierten Medikamenten, bewusstem Nahrungsmittelentzug oder Vernachlässigung. In der Datenbank sind beispielhaft 23 Menschen aufgenommen, bei denen aufgrund der Aktenlage sicher angenommen werden kann, dass sie Opfer dieses zum Teil schwer nachweisbaren Mord wurden, weshalb auch die Dunkelziffer hoch ist. Die Forschung geht heute von bis zu 200.000 Opfern reichsweit bis in das Jahr 1945 aus, auf Ulm übertragen würde dies einer Gesamtopferzahl von bis zu 450 Menschen gleichkommen.
"Aktion 14f13"
Ebenfalls beispielhaft sind vier Ulmer aufgenommen, die im Rahmen der „Aktion14f13“ als kranke, nicht mehr arbeitsfähige oder besonders missliebige Häftlinge aus NS-Konzentrationslagern in Tötungsanstalten gebracht und dort ermordet wurden. Während dieser ab 1941 laufenden geheimen Mordaktion – die mit zu den ersten systematischen Massentötungen im KZ-System gehörte – wurden insgesamt bis zu 20.000 Häftlinge getötet. Sie wurden von den ehemals bei der „Aktion T4“ beschäftigten Ärzt*innen selektiert und in die Tötungsanstalten Pirna-Sonnenstein, Bernburg oder Hartheim bei Linz deportiert. Maßgeblich für die Organisation der Morde war die bei der Kommission der SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamts eingerichtete Amtsgruppe Inspektion der Konzentrationslager in Berlin Oranienburg.
„Euthanasie"-Morde an Kindern
„Euthanasie“-Maßnahmen trafen seit 1939/40 auch behinderte und schwer kranke Kleinkinder und Säuglinge, später auch Jugendliche bis zu 16 Jahren. Auch zwei Ulmer Kinder sind in der Datenbank aufgenommen. Organisiert wurde dieses Mordprogramm in Berlin unter dem Tarnnamen „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“. Er beauftragte Kinder mit Behinderung zu erfassen, zu begutachten und in die neuen, an den Kinderkliniken oder Heil- und Pflegeanstalten installierten „Kinderfachabteilungen“ einzuweisen. Hier wurden sie dem Hungertod preisgegeben, durch Luftinjektionen oder Überdosierung von Medikamenten ermordet. Die lokalen Gesundheitsämter spielten bei der Durchführung eine zentrale Rolle, da sie die Kinder an den zuständigen „Zentralausschuss“ meldeten. Auch das Ulmer Gesundheitsamt unter der Leitung von Amtsarzt Dr. Schefold meldete insgesamt 69 Kinder zur Einweisung in eine „Kinderfachabteilung“ und übte Druck auf Eltern aus, der Einweisung zuzustimmen. Auch hier ist die genaue Zahl der Ulmer Opfer noch unklar, reichsweit wurden bis zu 5.000 Kinder ermordet.
Nachgeschichte und Gedenken
Für die Menschen in den Anstalten gab es 1945 keine Befreiung. Viele starben noch in den Monaten nach Kriegsende an Hunger und fehlender Versorgung. Zahlreiche Anstaltsdirektor*innen, Ärzt*innen und Pflegekräfte, die sich an den Verbrechen beteiligt hatten, arbeiteten trotz einzelner Strafprozesse unbehelligt weiter. In der Gesellschaft blieb die Vorstellung von „Minderwertigkeit“ und „erblicher Belastung“ noch lange lebendig. Angehörige von „Euthanasie“-Opfern fanden kaum Unterstützung oder stritten erfolglos um Entschädigung. Viele Familien von Ermordeten schämten sich für das erlittene Unrecht und schwiegen deshalb. Die deutsche Psychiatrie stellte sich der eigenen Verantwortung über Jahrzehnte lang nicht. Weil öffentliches und privates Verschweigen Hand in Hand gingen, wurden die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde aus der Erinnerungskultur ausgeklammert. Erst in den 1980er Jahren begann langsam ein öffentliches Gedenken. An den Orten der ehemaligen Anstalten entstanden Gedenkstätten. Kommunale Erinnerungsformen blieben aber noch selten. In Ulm gab es eine schlecht zugängliche Erinnerungstafel am Oberen Riedhof. Zum 75. Jahrestag der „Euthanasie“-Morde 2015 wurden Forderungen laut, die Erinnerung an die Opfer anders zu gestalten.
Ulmer Bürger*innen setzten sich zusammen mit dem Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg für einen würdigen Ort der Information und des Gedenkens ein. Mit Unterstützung der Stadt Ulm, des Landes Baden-Württemberg und des Land- und Amtsgerichts Ulm wurde 2019 ein Erinnerungszeichen vor dem Gebäude des Amtsgerichts Ulm errichtet. Gleichzeitig wurde auch ein Gedenkbuch für die Ulmer Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden veröffentlicht. An diesem Gedenkort sind die Namen der Ulmer Opfer der „Euthanasie“-Morde erstmalig öffentlich genannt. Damit sollen sie als Ulmer Bürger*innen und als Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt und gewürdigt werden. Die Erinnerung soll helfen, über unseren heutigen Umgang mit Behinderungen und Krankheiten nachzudenken: Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und ist gleich viel wert.
Weitere Informationen
Das Gedenkbuch beschreibt auf der Grundlage umfangreicher Recherchen die historischen Hintergründe von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden. 1.155 Menschen aus Ulm und Region wurden zwischen 1934 und 1944 gegen ihren Willen sterilisiert. Sie galten wegen einer als erblich betrachteten Krankheit, Behinderung oder weil sie von der sozialen Norm abwichen als nicht „fortpflanzungswürdig“. Seit 1940 wurden psychisch kranke oder behinderte Menschen gezielt getötet. Das Gedenkbuch enthält Kurzbiografien von 183 namentlich bekannten, Frauen und Männer aus Ulm die von Ärzten und Pflegepersonal in Tötungs-, Heil- und Pflegeanstalten ermordet wurden, weil sie als „lebensunwert“ galten. Die tatsächliche Zahl lag weit höher. Ziel ist es, die Opfer durch Nennung ihrer Namen und die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichten in das kollektive Gedächtnis der Stadt Ulm zurückzuholen.